In den spätern 1960er und den frühen 1970er Jahren bin ich in einer bekannten oberösterreichischen Grossfamilie in dem Bewußtsein erzogen worden, etwas “Besonderes” zu sein. Worin diese Besonderheit bestehen sollte, war unklar.
Über die Jahre und nicht ohne die Hilfe einiger kritischer Mitglieder der Familie habe ich herausgefunden, dass in der Grossfamilie ein sehr komplexes Gespinnst aus Mythen, Legenden und Lügen über die Vergangenheit und die Generationen der Grosseltern und Urgrosseltern gewoben worden war. Ich erkannte, dass auch Menschen, die mir emotional sehr nahe standen, aktiv an dieser Selbstverherrlichung der Grossfamilie Teil hatten und teilweise daran bis heute festhalten. Innerhalb dieses Kokons aus Geschichten wurde mir schrittweise immer klarer, daß nicht wenige Familienmitglieder aktive und begeisterte Nazis gewesen sind, viele in der NSDAP waren, einige sogar hohe Offiziere bei SS und SA gewesen sind und manche durchaus einflussreiche Positionen in allen Sparten der Gesellschaft während des Dritten Reiches inne hatten.
Ich begann Interviews mit Verwandten zu führen und eine ungeheure Fülle an Material zu sammeln. Das war der Zeitpunkt, der mich zu einer Art Familienchronisten gemacht hat. Dennoch hatte ich vorläufig nicht die geringste Ahnung, was ich mit all der Information anstellen sollte. In dem, was ich als “das System der Familie” bezeichne, spielte mein Urgrossvater offensichtlich eine zentrale Rolle. Er war Arzt und Universitätsprofessor und ein nicht unbekannter Vertreter der Eugenik in Österreich. Seinen Studierenden bleute er ein, dass Familien und Ahnenforschung ein wichtiges Werkzeug der – wie es damals hiess – “Rassenforschung” sei und dass es von grosser Wichtigkeit wäre, viele Kinder zu zeugen und aufzuziehen. Er war Gründungsmitglied des “Reichsbundes der Kinderreichen” und ging selbst mit bestem Beispiel voran.
Dies wurde in der Folge zum Angelpunkt für mein Projekt. Selbst heute noch fühlt sich eine Mehrzahl meiner Verwandten auf die eine oder andere Weise der Idee der Grossfamilie verpflichtet. Gemeinsam mit meinem Cousin Eckhart Derschmidt habe ich im Oktober 2010 eine Internetplattform auf der Basis von Web 2.0 veröffentlicht und die Familienmitglieder aufgefordert, sich daran zu beteiligen. Der Text der Startseite war zugegeben sehr provokant formuliert, verfehlte daher nicht seine Wirkung. Er lautete sinngemäss so: “Hat der Eugeniker Dr. Heinrich Reichel zu Beginn des 20en Jahrhunderts sein ganz persönliches Vererbungsexperiment gestartet? Schliesslich hat er 9 Kinder, 36 Enkelkinder und über 80 Urenkel usw. usf. Sind wir das Ergebnis eines genetischen Versuches? Lasst uns dieses Experiment evaluieren…”
Ich habe den Familienmitgliedern versprochen, die Internetseite zwei Jahre lang geschlosssen zu führen (2010-2012). Von der Gesamtzahl aller Familienmitglieder (kleine Kinder und alte Leute, die keinen Computer benützen, mitgezählt) sind im Zuge eines sehr schwierigen und schmerzhaften Prozesses bis dato etwa ein Drittel als User beigetreten.
Ironischerweise wurde ich zu einer Art Gegenspieler meines Urgrossvaters. Wie in einer Spiegelung tue ich eigentlich jetzt genau das, was er verlangte: nämlich Familienforschung. Im Gegensatz zu ihm interessiert mich die genetische Weitergabe, innerhalb des von den Eugenikern so genannten “Erbstroms” nicht im Geringsten. Ich versuche hingegen, die Weitergabe von Weltanschauungen, Ideologie und politischen Haltungen über sechs Generationen in dieser bürgerlichen Grossfamilie zu thematisieren. In der Folge begann ich Historiker, Soziologen, Psychologen und andere Experten zu kontaktieren. Ich lud sie ein, unserem Projektbeirat beizutreten. In der Folge wurde die Projektdatenbank durch eine Vielzahl an Dokumenten aus Archiven, theoretischen Texten und anderen Materialien angereichert.
Für das Projekt ist es von grosser Wichtigkeit, zu verstehen, dass die Nazis nicht wie eine Horde Wahnsinniger aus dem Nichts kamen und wieder verschwunden sind. Sie waren auch keine von aussen kommende “Andere” sondern kamen aus der Mitte der Gesellschaft: Die eigenen Väter und Mütter, Grosseltern, Tanten und Onkel waren “die Nazis”. Wenn man einen Schritt zurück tut und mit diesem grösseren Blickwinkel auch das 19. Jahrhundert mitbetrachtet, kann man am konkreten Beispiel dieser bürgerlichen Grossfamilie gut aufzeigen, wie sich die vielen oft sehr unseligen Wechselwirkungen zwischen Nationalismus, Jugendbewegung, Erneuerungs- und Reinheitsphantasien und nicht zuletzt moderner Wissenschaft usw. ergeben haben müssen. Diese spezifische Familie ist diesbezüglich alles andere als besonders einzigartig. Das Projekt “Reichel komplex” kann vielmehr als Modell für viele österreichische, deutsche und andere europäische Familien dienen. Für die jetzt lebenden Generationen geht es vermutlich weniger um Schuld als um Scham. Ich selbst jedenfalls werde trotzdem immer Teil dieses Systems bleiben, ob ich will oder nicht. Da gibt es kein Entkommen.